Ein bayerischer Skandal bringt die deutsche “Holocaust-Schuld” ans Licht

“Wer solche Gedanken denkt, aufschreibt und verbreitet, darf in Deutschland keine politische Verantwortung tragen”, erklärte Saskia Esken, Vorsitzende der SPD. Doch nicht alle sind dieser Meinung.

von Ben Cohen | | Themen: Antisemitismus, Deutschland
Holocaust
Hubert Aiwanger, Bildquelle: Leonie Rabea Große, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Seit gut einer Woche wird Deutschland von einem Antisemitismus-Skandal erschüttert, in dessen Mittelpunkt Hubert Aiwanger, der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns, steht. Dem heute 52-jährigen Aiwanger wird vorgeworfen, als 17-jähriger Schüler im Jahr 1987 ein bösartiges antisemitisches Flugblatt verfasst zu haben, das den Holocaust parodierte und an seiner Schule verteilt wurde, woraufhin er von einem Disziplinarausschuss bestraft wurde.

Die Einzelheiten des Skandals lesen sich wie die Handlung einer dunklen politischen Komödie. Sie könnten sich auch fragen, warum die jugendliche Dummheit eines Politikers mehr als drei Jahrzehnte später zu einem nationalen Skandal wird. In diesem Fall ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es sich um Deutschland handelt, wo Schuldgefühle in Bezug auf den Holocaust – zusammen mit anderen Emotionen wie Wut, Verwirrung oder einfach dem Wunsch, dass das Gerede über den nationalsozialistischen Völkermord ein für alle Mal aufhört – immer noch eine große Rolle spielen.

Es wäre naiv zu glauben, dass hinter der Berichterstattung über den Skandal keine politischen Motive stecken, zumal Aiwanger ein ausgesprochener Rechtspopulist ist. Dennoch bleiben unbequeme Fragen offen. Wenn Aiwanger, wie es die Zeugenaussagen und seine eigenen Eingeständnisse vermuten lassen, diese verwerflichen Ansichten schon als älterer Jugendlicher vertrat, wann hat er sie dann, wenn überhaupt, aufgegeben? Und sollte ein Politiker in Deutschland – der Initiator und Vollstrecker des Holocausts – weiterhin im Amt bleiben, wenn er oder sie solche Leichen im Keller hat?

“Wer solche Gedanken denkt, aufschreibt und verbreitet, darf in Deutschland keine politische Verantwortung tragen”, erklärte Saskia Esken, die Vorsitzende der Sozialdemokraten. Und viele im deutschen Establishment würden dem zustimmen.

Die deutschen Wähler jedoch offenbar nicht. Eine von der Augsburger Allgemeinen durchgeführte Umfrage ergab, dass 53 % der Wähler dafür sind, dass Aiwanger in seinem Amt bleibt – eine Zahl, die bei den Befragten in Bayern gar bei 62 % lag.

Die Wahrheit ist, dass Deutschland und die Deutschen, so sehr sie sich auch nach außen hin als die feierlichen Hüter der Erinnerung an den Holocaust präsentieren, in dieser Rolle weiterhin versagen. Allein in diesem Jahrzehnt haben wir gewalttätige antizionistische Demonstrationen in deutschen Großstädten erlebt, bei denen die Zerstörung Israels gefordert wurde; mindestens fünf antisemitische Vorfälle wurden täglich registriert (Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung zur Bekämpfung des Antisemitismus, sagte mir kürzlich, dass die tatsächliche Zahl eher bei 25 liegt); und eine angesehene Ausstellung zeitgenössischer Kunst war gespickt mit antisemitischen Bildern und Installationen.

Kein Wunder also, dass Aiwanger, auch wenn er sich bei den Opfern des Holocaust entschuldigt, darauf beharrt, dass, was immer er mit dem Flugblatt getan hat, es nicht rechtfertigt, ihn aus dem politischen Leben zu verbannen.


Christoph Heubner, der Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Komitees, bemerkte, dass, wenn Aiwanger sich weigere, sich aus der Politik zurückzuziehen, “wo immer er in Zukunft auftaucht, die Sätze dieses schändlichen Flugblattes immer im Raum stehen werden”. Mag sein. Vielleicht ist das aber auch nur Wunschdenken. Was der Aiwanger-Skandal vor allem andeutet, ist, dass Deutschlands Verantwortungsgefühl für den Holocaust – was wir etwas ungeschickt als “Holocaust-Schuld” bezeichnen – abnimmt, egal was seine Mainstream-Politiker den Medien erzählen.

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21 Antworten zu “Ein bayerischer Skandal bringt die deutsche “Holocaust-Schuld” ans Licht”

  1. Jörg Rene Rodegra sagt:

    OhOhOh, ein Skandal!

    Ob sich die Deutschen auch heute noch damit strafbar machen, dass ihre Einkommensteuergesetz von Adolf stammt?

    …und erst die Schulgesetze, viele made bei Nazideutschland! Vielleicht trägt der Herr Aiwanger selber ja gar keine Schuld? Wenn seine Lehrer ihren Unterricht auf Basis (wenn auch nur teilweise) von Gesetzen abgehalten haben, die eindeutig auf nationalsozialistischem Gedankengut basieren….ohoh.

    Sind da nicht evtl. die Alliierten mit verantwortlich, die haben doch Deutschland gesäubert….. war vielleicht ein schlechter Putzdienst am Werk….

    Shalom

  2. j-glaesser sagt:

    Lese gerade das Buch: ENTSORGUNG DER NS-HERRSCHAFT? KONFLIKTLINIEN IM UMGANG MIT DEM HITLER-REGIME von Joachim Perels (2004).
    Ein Staat – wie die BR Deutschland – dessen Staatsapparat (Justiz / Universitäten / Polizei / Geheimdienste / Wehrmacht bzw. Bundeswehr / Ämter und Behörden / … ) nach 1949 fast gleich mit dem von der Zeit von 1933 bis 1945 war sollte man so etwas genehmigen, oder? Selbst in höchsten politischen Ämtern durften Nazis die BR Deutschland führen – Kurt Georg Kiesinger, Karl Carstens, Hans Filbinger, Walter Scheel, … .

  3. Klaus Schmoll sagt:

    Der Artikel greift meines Erachtens zu kurz. Gerade bei denen, die sich am meisten empörten (aus v.a. SPD und Grüne) ist der israelbezogene Antisemitismus weit verbreitet, bis hin in höchste Staatsämter.
    Im Kern der Angelegenheit ging es eher um das Ausschalten eines unliebsamen Politikers, als um Abarbeiten deutscher Geschichte, daher war in der Debatte sehr viel Doppelmoral wahrzunehmen. Bitte lesen Sie unbedingt die Stellungnahmen von Prof. Wolffsohn und von Jo Hamburger. Der Post von iak Berlin im Artikel ist mehr als tendenziös und nicht geeignet auch nur annähernd die Angelegenheit einzuordnen. So wie Israel von außen nicht schnell mal verstanden werden kann, ist das auch mit Bayern so.

    • Andrew Manner sagt:

      Bayern? Das Ich nicht lache!
      Bayern ist ein Fremdkörper in der Bundesrepublik, genauso wie Thüringen!
      Bayrische Politiker waren und sind durchweg rechtspopulistisch: FJS, Seehofer, Söder und viele andere. Außerdem hat die bayrische CSU noch sehr viele unfähige Verkehrspolitiker hervorgebracht.
      Ich habe das Pamphlet von Aiwanger gelesen und Ich glaube die Story mit dem Bruder als Bauernopfer nicht! Aiwanger ist ein Politiker, der nicht in ein tragendes Staatsamt gehört!

      • Klaus Schmoll sagt:

        Natürlich steht es jedem zu, zu lachen. Ob derartiges Pauschalieren einer Bevölkerung und einzelner Menschen gerecht wird, wage ich zu bezweifeln. Mich macht eine solche Tirade sehr betroffen. Mehr möchte ich nicht hinzufügen.

  4. Daniel Mörder sagt:

    Meine Lehrer hätten sofort gehandelt wenn bei uns so ein Flugblatt im Umlauf gewesen wäre und nicht erst nach ein “paar Jahren”.
    Daher finde ich diese Debatte scheinheilig, vor allem wenn man sieht was z,B. Herr Michael Blume (Beauftragter der BW-Landesregierung gegen Antisemitismus) bisher von sich gegeben hat.

  5. Bernd Holl sagt:

    Den Werdegang der Gesinnung von Herrn Aiwanger kenne ich nicht. Klar ist aber doch wohl, daß er in der Zeit seines politischen Engagements nicht durch antisemitische Hetze aufgefallen ist. Sollte mir da etwas entgangen sein, lasse ich mich gerne eines besseren belehren.
    Daß ausgerechnet so kurz vor der Landtagswahl diese Geschichte aus seiner Jugend breitgetreten wird, ist doch ganz klar eine widerliche Kampagne linker Kräfte.
    Wozu Linke neigen, habe ich selbst erleben müssen. Ich wurde als “hart Rechts” bezeichnet, weil ich mich kritisch zum Islam und zur Flüchtlingspolitik seit 2015 geäußert hatte.
    Überdies ist die Doppelmoral vieler Linker widerlich, ist doch gerade unter ihnen der Hass auf Israel weit verbreitet.
    Also, meine Bitte an die Redaktion: bitte etwas vorsichtiger, wenn es um die Bewertung innenpolitischer Vorgänge in Deutschland geht.

    • Bodo Hüfing sagt:

      Danke für Ihren Kommentar, ich sehe es genauso. Die Israelitische Redaktion sollte nicht den gleichen Fehler machen wie unsere politisch gesteuerte Presse, die den Politischen Mord an den Herren forcieren.

    • j-glaesser sagt:

      Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hat eine Entschuldigung von Hubert Aiwanger im Zusammenhang mit einem Hetzflugblatt in seiner Schulzeit abgelehnt. Aiwanger, bayerischer Wirtschaftsminister und Bundesvorsitzender der Freien Wähler, habe sich bei ihr gemeldet, sagte Knobloch am Montag im Deutschlandfunk.
      »Ich habe (seine) Entschuldigung nicht angenommen, und das ist das, was ich von Aiwanger momentan halte.« Was der Politiker bis jetzt gesagt habe, sei in ihren Augen »eine sehr negative Aussage«. Quelle: Jüdische Allgemeine

      • Thilo Büttner sagt:

        bleibt anzumerken, dass der Zentralrat der Juden ja kein gewähltes Gremium der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist sondern ein von der Bundesregierung großzügig finanzierter Verein, der leider oder deswegen nach dem Motte handelt: “wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing”. Der Zentralrat der Juden ist entsprechend – was ich mitbekomme – weder beim jüdischen noch bei dem nichtjüdischen Volk Deutschlands sehr beliebt.

        • j-glaesser sagt:

          München, 9.12.2021. Nach den Vorstandswahlen der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) vom 2. und 5. Dezember 2021 hat sich am heutigen Donnerstagabend der neue Vorstand konstituiert. Dr. h.c. Charlotte Knobloch wurde dabei als Präsidentin der IKG wiedergewählt, Yehoshua Chmiel und Peter Guttmann vervollständigen als Vizepräsidenten das neue Präsidium.

  6. spenglersilvia sagt:

    Ich möchte mit nur kurz auf ein Interview mit dem jüdischen Historiker
    Michael Wolffsohn hinweisen, der sagte, man solle das jüdische Leid nicht, wenn man es braucht, für eigene Zwecke benutzen (meine ungebildeten Worte).
    Und er wies auf die gemeinsame Lehre des Juden- und Christentums hin, die
    ganz besonders Vergebung lehren. Das war mein Gedanke auch: wie sollen jemals die Wunden der Geplagten heilen, wenn sie immer wieder darauf hingewiesen werden. Das ist nicht ehrlich – eigentlich auch lieblos. Und der Zeitpunkt ist perfide ausgesucht. Was jetzt in der “Welt” über Herrn Wolffsohn steht, ist genauso verachtend, nicht verstanden, was er gesagt und gemeint hat.
    Wer Juden liebt, wird sie nicht zu egoistischen Zwecken benutzen vor Wahlen und wenn´s sonst nützlich ist. Deutsche Politiker sollten lieber bei der Uno für Israel eintreten, nicht den Terror negieren und keine Zweistaatenlösung fordern.

    • Roland Kunz sagt:

      Absolut gute und kompakte Beschreibung dessen, was jetzt in D abläuft und was korrekterweise anstehen würde. Herzlichen Dank dafür.
      Ich habe das WELT-Gespräch mit Herr Wolffsohn gehört und kann nur bezeugen, er bringt diese Doppelmoral der rot-grünen Politiker auf den Punkt.

  7. Nehemiah sagt:

    Die Umfragewerte kommen wohl zustande, weil die Leute den Elefanten im Raum wahrnehmen: Die Aiwanger-Affäre ist rein politisch motiviertes Schmierentheater. Leider ist es üblich geworden, den Holocaust für parteipolitische Spielchen zu missbrauchen. Dem Gedenken tut man damit jedenfalls keinen Gefallen.

  8. jotfried sagt:

    Wer durch den Gebrauch der Vokabel “Antisemitismus” demonstriert, dass er keine Ahnung hat davon, dass “die Juden” nur eines von vielen Völkern semitischer Abstammung ist, der ist nicht ernst zu nehmen im Prozess der Menschwerdung Gottes.

  9. Thilo Büttner sagt:

    es wäre gut gewesen, wenn Sie
    a) das Flugblatt im Original gezeigt hätten, dann wäre deutlich gewesen, dass es sich in der Absicht eines 17 Jährigen am ehesten (!) um eine sehr verunglückten markaberen satirisch gemeinten Scherz eines Nachkriegsdeutschen gehandelt hat. So hätte sich jeder sein eigenes Urteil bilden können! – holen Sie dies noch nach? – wie sehr dürfen wir uns über Geschehnisse im Zusammenhang mit den Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes lustig machen?
    b) erwähnt hätten, dass die Urheberschaft des Flugblattes gar nicht geklärt ist, nach Angaben des Bruders von Herrn Aiwanger habe dieser (der Bruder) das Flugblatt verfasst, wohl aus Frust über einen Lehrer, und dass dieses Flugblatt bewusst 6 Wochen vor der bayerischen Landtagswahl von einem berenteten linken ehemaligen Lehrer der Aiwangers an die Süddeutsche Zeitung durchgestochen wurde mit dem Ziel, die Karriere des Herrn Aiwanger zu beenden , es sich hier um einen Rufmord handelt

    • j-glaesser sagt:

      Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger (Freie Wähler) hat eine öffentliche Stellungnahme zu neuer Kritik des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, abgelehnt.
      Schuster hatte am Montagabend in den ARD-»Tagesthemen« unter anderem beklagt, dass er »Reue und Demut« bei Aiwanger »nicht feststellen« könne. Und er kritisierte, dass das Mittel der »Opfer-Täter-Umkehr«, das der Freie-Wähler-Chef gewählt habe, »überhaupt nicht geht«. Quelle: Jüdische Allgemeine

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