
Am Sonntagabend gab es in Tel Aviv einen Streit um die öffentlichen Gebete am Dizengoff-Platz während des Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung und der heiligste Tag des Judentums. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu verurteilte das Verhalten von „Linksextremisten“, während Yair Lapid und Benny Gantz die Schuld bei den religiösen Juden suchten und Netanjahu vorwarfen, nur aus politischen Gründen Gewalt im Volk zu schüren. Hinter dem Streit und der Feindseligkeit in Tel Aviv steckt mehr als nur der Hass auf religiöse Juden und das getrennte Beten an Jom Kippur. Die Menschen im Land fürchten, dass nach Jerusalem auch Tel Aviv erobert wird. Das höre ich von den Bewohnern der Küstenstadt.
Das erinnert mich an das Lied von Leonard Cohen „First we take Manhattan, then we take Berlin“. Ich denke, Ihr kennt es:
Zu Beginn des Jom Kippur am Sonntagabend kam es auf dem Dizengoff-Platz in Tel Aviv zu Auseinandersetzungen, als religiöse Juden versuchten, während des Kol-Nidrei-Gebets Trennwände aufzustellen, um Männer und Frauen voneinander zu trennen. Dies war jedoch zuvor von der Stadtverwaltung Tel Avivs und dem Obersten Gerichtshof verboten worden, da es sich um einen öffentlichen Platz handelte. Die spontane Ankündigung religiöser Juden, den Gottesdienst wie in allen Synagogen nach Geschlechtern getrennt abzuhalten, sorgte am heiligsten Tag des Jahres für Unruhen unter der Tel Aviver Bevölkerung, sodass die israelische Polizei eingreifen musste. Einige Gruppen beantragten bei den Gerichten von Tel Aviv, das Verbot der Geschlechtertrennung aufzuheben, doch der Oberste Gerichtshof wies diese Anträge zurück.
„Wir müssen unsere Lehren ziehen und verstehen, dass der innenpolitische Konflikt die akuteste und gefährlichste Bedrohung für unser Volk ist“, sagte der israelische Staatspräsident Isaac Herzog in seiner Rede anlässlich des 50. Jahrestages des Jom-Kippur-Krieges. “Gerade gestern, an diesem heiligen Tag, haben wir ein schockierendes und schmerzhaftes Beispiel dafür gesehen, wie der innere Kampf in uns eskaliert und sich in unserem Volk verschärft.”
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu kritisierte das Verhalten der Linken scharf: „Zu unserer Überraschung kam es in der jüdischen Nation am heiligsten jüdischen Tag zu Ausschreitungen linker Demonstranten gegen Juden, während diese beteten. Es scheint, als gäbe es für Linksextremisten keine Grenzen, keine Normen, keine Ausnahmen vom Hass. Das lehne ich, wie die meisten Bürger Israels, ab. Es gibt keinen Platz für solch gewalttätiges Verhalten unter uns.”
Der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, twitterte: „An Jom Kippur haben wir gesehen, wie Hasser versucht haben, das Judentum aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Israel ist eine jüdische und eine demokratische Nation. Am Donnerstag werde ich auf dem Platz einen Abendgottesdienst abhalten. Dazu lade ich alle ein.”
Andere verurteilten den Vorfall als antisemitischen Angriff auf religiöse Juden.
Während Netanjahu die linksradikalen Demonstranten angriff, prangerte Oppositionsführer Yair Lapid die nationalreligiösen Gruppen an, die in Tel Aviv ein sogenanntes messianisches Judentum etablieren wollen. „Der orthodoxe ultranationalistische Kern, der nach Tel Aviv gekommen ist, hat beschlossen, einen Krieg zu führen“, sagte Lapid und bezog sich damit auf religiös-nationalistische Gruppen, die in säkularen und arabischen Städten auftreten und behaupten, jüdische Werte zu fördern. „Sie versuchen uns zu erklären, dass es nur eine Version des Judentums gibt, ihre Version. Sie verlangen, dass sie im Namen der Toleranz sogar in unserer Nachbarschaft entscheiden, was erlaubt ist und was nicht.” Lapid merkte an, dass er selbst an Jom Kippur in die Synagoge gehe und dass dieser Tag ein Beispiel dafür sei, dass das Judentum nicht erzwungen werden müsse.
תל אביב ניצחה. הוברחו לבית הכנסת pic.twitter.com/eIV2D66rgu
— Shaul Greenfeld (@shaulig) September 24, 2023
Der Streit um die Trennung von Männern und Frauen war nur ein Auslöser. Ich verstehe die Ängste der linken Tel Aviver, die sich gegen das getrennte Beten an Jom Kippur auflehnten, aber nicht ihr Verhalten. Als jemand, der in Jerusalem aufgewachsen ist, sehe ich, wie sich Jerusalem in den letzten fünf Jahrzehnten verändert hat. Säkulare Wohnviertel haben sich im Laufe der Jahre in religiöse bis orthodoxe Wohnviertel verwandelt, wie Rehavia, Bakaa, Givat Mordechai, die lange Usiel-Straße in Ramat Scharet, Pisgat Zeev und viele andere Viertel in der Hauptstadt Israels. Alles begann klein, mit ein oder zwei Familien und einer Synagoge, dann einer Mikwe, und das zog nach und nach immer mehr religiöse Juden in die ursprünglich säkularen Wohnviertel. Für nichtreligiöse Juden wird das Leben in einer solchen Umgebung oft unangenehm, sie ziehen weg und neue Bewohner ziehen ein, religiöse oder orthodoxe Juden. So hat sich Jerusalem im Laufe der Jahrzehnte verändert, und jeder Jerusalemer wird das bestätigen. Man darf sich also nicht wundern, wenn säkulare Juden die Stadt verlassen und Jerusalem eine immer mehr orthodoxe Stadt wird.
Die orthodoxen, religiösen Juden können mit ihren Verboten und Geboten keine Kompromisse machen, die säkularen Juden schon. Das geben die orthodoxen Juden selbst zu. Nicht nur das, sie geben auch zu, dass sie die heilige Stadt Jerusalem langsam zu einer religiösen Stadt machen wollen. Wie oft habe ich von orthodoxen Juden gehört, dass sie Jerusalem erobern wollen. Selbst die jüdische Siedlung Zur Hadassa auf den westlichen Hügeln Jerusalems wurde im Grunde als säkulare Gemeinschaft gegründet. Doch in den letzten zehn Jahren haben sich immer mehr religiöse Juden dort niedergelassen, und es wurden zwei Synagogen und eine Mikwe gebaut. Die Pioniere waren dagegen, aber die Dynamik der Gemeinde geht in eine andere Richtung. Ich weiß, wie viel Ärger das in diesem Dorf ausgelöst hat, denn ich wohne nur zwei Kilometer entfernt.
Säkulare Juden ziehen nicht in religiöse oder orthodoxe Wohnviertel wie Mea Schearim in Jerusalem oder andere orthodoxe Städte wie Beitar Illit, sondern es geschieht nur umgekehrt. In orthodoxen Vierteln und Städten werden verfügbare Wohnungen nicht an säkulare Juden verkauft. Nicht nur das, in orthodoxen Vierteln und Städten werden Wohnungen oft nicht an sephardische Juden verkauft oder vermietet, wenn es in diesem Viertel oder dieser Stadt eine aschkenasische Gemeinschaft gibt. So war es beispielsweise in Beitar Elit, wo ich zwei marokkanische Juden kannte, die orthodoxe Juden waren und denen keine Wohnung in Beitar Illit vermietet wurde, weil sie sephardische Juden waren.
Um den Zuzug religiöser, orthodoxer Juden in die als nicht religiöse geltende Städte oder Stadtviertel zu vermeiden, wurden in Israel jüdisch orthodoxe Städte wie zum Beispiel Beitar Illit, Elad oder Modiin Illit gegründet. Damit sollte das Problem gelöst werden, die orthodoxen Juden sollten dort nach ihrem Glauben leben können, ohne andere dadurch einzuschränken. Erst vor kurzem wurde der Bau einer weiteren jüdisch orthodoxer Stadt im Negev angekündigt. In der Stadt “Tila” sollen einmal 80000 orthodoxe Juden leben. Doch die Realität sieht anders aus.

Davor hat ein Teil der Tel Aviver Angst. Sie befürchten, dass mit den öffentlichen Gebeten eine Aussage provoziert wird, mit der die religiösen Juden langsam auch Tel Aviv erobern wollen. Aber deshalb am heiligen Jom Kippur religiöse Juden beim Gebet zu stören und dieses zu verhindern, ist aus meiner Sicht natürlich nicht gerechtfertigt. Hätten Moslems in der Innenstadt von Tel Aviv gebetet, hätten dieselben linken Juden sicher nichts dagegen gehabt. Nicht die linken, aber in diesem Fall kann ich mir gut vorstellen, dass die religiösen Juden sich darüber aufgeregt hätten.
Das Land verändert sich, und das ist eine Tatsache, mit der die Menschen im Land umgehen müssen. Beide Seiten müssen einen Mittelweg finden, um friedlich nebeneinander zu leben, am besten getrennt. Das Miteinander funktioniert leider oft nicht. Und deshalb sind an Jom Kippur einige ausgeflippt. Das ist schade, aber in diesem Fall müssen die Extremisten auf beiden Seiten gebremst werden, um das Zusammenleben in dieser verrückten Zeit neu zu erfinden.
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