
Gestern war ich den ganzen Tag lang müde, denn ich bin schon um 5:45 Uhr aufgestanden. Selber schuld, könnten Sie jetzt denken, warum so früh aufstehen? Die Sache ist, dass mein Wecker auf 7 Uhr gestellt war. Doch gestern brauchten die meisten Bewohner meines Stadtviertels keinen Wecker. Gegen halb sechs begann ich, eigenartige Geräusche zu hören, Pfiffe, Trommeln, Tröten und dann auch Schreiereien. Zuerst reagierte ich nicht weiter darauf, doch als es dann auch noch nach Brand zu riechen begann, stand ich erschrocken auf. Es war also gar kein Traum. Und als ich dann die Schreie nach Demokratie hörte, wurde mir klar, was los ist.
Ich ging runter ins Wohnzimmer, öffnete die Jalousien und ging in den Garten. Und das war mein erster Eindruck:
Niemand brauchte einen Wecker an diesem Tag. Video: Dov Eilon
Seit Januar wird in unserer Straße vor dem Haus unseres Justizministers Yariv Levin gegen die geplante Justizreform demonstriert. Wir haben uns leider daran gewöhnt, mehrmals in der Woche diesen Krach zu hören. In der letzten Zeit gab es weniger Proteste vor dem Haus unseres Nachbarn, doch jetzt, wo sich die Regierung wieder um die Umsetzung von Teilen der Justizreform bemüht, häufen sich die Besuche der Demonstranten in unserer sonst stillen Straße.
Das magische Wort, das den Demonstranten so gut wie alles erlaubt, lautet “Demokratie“. Bei jeder Demonstration vor dem Haus von Yariv Levin höre ich die Rufe nach Demokratie. Auch ich bin ein absoluter Unterstützer der Demokratie. Aber darf man im Namen der Demokratie wirklich alles machen? Hier der Grund für den unangenehmen Brandgeruch, der mich um viertel vor sechs aus meinem Bett jagte:
הפגנה הבוקר במודיעין מול ביתו של שר המשפטים יריב לוין
השמאל המטורלל מזהם את העולם🤮 pic.twitter.com/bhlLybznJz— הוי עוז (@tal7776) June 27, 2023
Beeindruckend, oder? Ehrlich gesagt, ich war geschockt. So etwas hat es in unserer Straße noch nicht gegeben. Doch damit nicht genug. Die Kämpfer für die Demokratie hatten noch weitere Überraschungen für uns vorbereitet.
עם גדרות תיל וצמיגים בוערים: פעילי שמאל הפגינו מול ביתו של שר המשפטים לוין | צפו בחרפה https://t.co/tGMsySzDxf
אין משטרה אין חוק
מדינה בהתמוטטות— יובל אוחיון (@whywn_ywbl) June 27, 2023
Unsere Straße wurde mit Stacheldraht blockiert. Man wollte uns in unserer Straße festhalten. Was tut man nicht alles im Namen der Demokratie. Die Stadtverwaltung informierte mich, dass die Polizei über die Vorfälle informiert sei und sich darum kümmern werde. Es dauerte allerdings fast zwei Stunden, bis sich die Polizei blicken ließ und begann, die unangemeldete Protestaktion aufzulösen.
Ich war wenig überrascht über die langsame Reaktion der Polizei. In den vergangenen Monaten habe ich gelernt, dass sich die Polizei bei Protesten dieser Art, also Demonstrationen für die Demokratie, gerne etwas mehr Zeit lässt, bis sie eingreift. So wurde den Demonstranten in Tel Aviv immer wieder erlaubt, die zentrale Aylalon Schnellstraße stundenlang zu blockieren. Einmal sogar unter Führung des Tel Aviver Polizeichefs Ami Eshed.
הלילה חל דבר במדינת ישראל מפקד תחנת משטרת תל אביב עמי אשד צועד עם המפגינים שכבשו את איילון ובזה מסמל לנאשם וממשלת העבריינים עד כאן עצרו את החקיקה כי דיקטטורה לא תיהיה וישראל תשאר דמוקרטית. pic.twitter.com/tCCRdQreVT
— Gil מפילים את ממשלת החורבן (@gilinbar) March 27, 2023
Der Polizeichef von Tel Aviv, Ami Eshed, führte im März unter Applaus die Demonstranten bei der Blockierung der Ayalon Schnellstraße an.
Und nun zurück zu meiner Straße in Modiin. Gegen 8 Uhr verließ ich zusammen mit meinem Sohn das Haus, um zum Passamt im benachbarten Modiin Illit zu fahren, einer jüdisch-orthodoxen Stadt im Landkreis Binyamin. Nur dort gelang es mir vor einem halben Jahr, einen Termin für neue Reisepässe zu bekommen, aber das ist eine andere Geschichte. Da die Ausfahrt meiner Straße versperrt war, musste ich gegen die Fahrtrichtung fahren, um auf der anderen Seite den Weg in die Freiheit zu finden.
Als ich dann zwei Stunden später wieder zu Hause war, war von dem ganzen Chaos nichts mehr zu sehen. Unsere Straße bekam ihre Ruhe wieder. Aber nur bis zum Abend. Für 19 Uhr war eine Demonstration zur Unterstützung des Justizministers und für die Justizreform angesagt.
Na toll, dachte ich mir, das kann ja heiter werden. Aber ich hatte kein Problem damit, schließlich geht es hier um die Erhaltung der Demokratie, oder? Und so ging es dann am Abend wieder los. Diesmal trafen sich beide Lager vor dem Haus unseres Nachbarn, die Unterstützer der Justizreform und das “Nur-nicht Bibi”-Lager, damit meine ich die Gegner der Reform. Während die Unterstützer der Reform forderten, das Wahlergebnis zu akzeptieren und mit der Durchführung der Reform zu beginnen, gab es von der anderen Seite wieder Schreie für die Demokratie.
Dieser Abend war eine wunderbare Lektion für die Demokratie, wo jeder frei seine Meinung kundgeben kann. Das Problem dabei ist, dass viele Regierungsgegner, also die Kämpfer für die Demokratie, nicht bereit sind, das Ergebnis der letzten Wahlen hinzunehmen. Die Organisatoren der Proteste haben mehr als einmal gesagt, dass sie erst Ruhe geben werden, wenn die Regierung zerbrochen sei.
Diese Proteste werden vor allem vom früheren Ministerpräsidenten Ehud Barak unterstützt, auch finanziell. Dieser rief in der letzten Zeit immer wieder zu einem breiten Volksaufstand auf. Unglaublich eigentlich. Allerdings ist er jetzt etwas vorsichtiger mit seinen Äußerungen, um nicht wegen Hetze angezeigt zu werden. Denn genau darüber begann man seit einigen Tagen zu reden. Barak hält sich jetzt etwas zurück, genauso wie der ehemalige Knessetabgeordnete der Meretz-Partei, der ehemalige stellvertretende Armeechef Yair Golan. Auch er meinte, dass es erlaubt sei, gegen das Gesetz zu verstoßen, wenn es darum ging, Israel vor der Diktatur zu schützen. Na gut. Auch das ist ein Thema, über das man viel schreiben kann.
Gestern Abend ging es bei uns also wieder los. Und das klang von meinem Garten dann so:
Diesmal war die Polizei übrigens schon vor dem offiziellen Beginn der Demonstration vor Ort. Die Demonstranten für die Reform und für Justizminister Levin wurden in einem gewissen Abstand von seinem Haus ferngehalten, Sie durften im Park gegenüber ihre Unterstützung kundtun. Die Gegner der Reform versammelten sich dann auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.

Heute bin ich dann wieder zu einer normalen Zeit aufgestanden, um Ihnen diese Zeilen zu schreiben. Ich hoffe, dass wir heute einen ruhigeren Tag bekommen werden und sich die verschiedenen Seiten irgendwie einigen können, auch, wenn es momentan nicht danach aussieht. Wir haben momentan viel zu viele Probleme hier im Land. Wir können uns diesen endlosen Streit innerhalb unseres Volkes einfach nicht leisten. Brauchen wir erst eine nationale Katastrophe, um wieder zueinander zu finden?
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Eine Antwort zu “Im Namen der Demokratie”
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Schade, dass die Justizreform nicht vollständig umgesetzt wurde. Das ist eine Schande für die Regierung und Netanyahu. Aber von Netanyahu war ja auch nichts anderes zu erwarten, da er sich immer alles politisch so hindreht, wie er es braucht. Die Wähler sind ein weiteres Mal wieder deutlich angelogen worden, was die politischen Versprechungen betrifft.