
Der Monat Oktober ist schnell vergangen. Was für ein Monat. Seit dem 7. Oktober hat sich unser Land verändert, seine Bürgen haben sich verändert, wir haben uns verändert. Seit dem größten Massaker an dem jüdischen Volk seit dem Holocaust ist nichts mehr so, wie es einmal war. Unser Alltag hat sich total verändert. Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Unser ganzes Weltbild hat sich verändert. Wir leben jetzt in einer anderen Realität. Die Welt von vor dem 7. Oktober gibt es nicht mehr.
Ich versuche, Euch meine Empfindungen zu beschreiben in dieser neuen Zeit. Die Ereignisse vom 7. Oktober sind bei mir immer gegenwärtig. Irgendwie habe ich die Bilder dieser schrecklichen Ereignisse immer in meinem Kopf. Ich muss an die Menschen denken, die ihre Liebsten verloren haben, ich denke an die Menschen, deren Familien nach Gaza entführt worden sind. Sie haben eine enorme Stärke entwickelt. Sie haben die Hoffnung nicht verloren, ihre entführten Angehörigen wieder in die Arme schließen zu können.
Gestern gab es gute und schlechte Nachrichten, wie fast an jedem Tag. Wir waren traurig, zu hören, dass Shani Louk den Angriff der Hamas nicht überlebt hat. Später gab es dann ein Lebenszeichen von drei entführten Frauen. Die Hamas hatte ein Video von ihnen veröffentlicht, das in den israelischen Medien jedoch nicht gezeigt wurde. Denn genau das wollen die Hamas-Terroristen. Uns reichte es, zu sehen, dass die Frauen leben. Und am Abend kam dann die größte Überraschung des Tages. Die Nachricht von der Befreiung der Soldatin Ori Megidish. Sie wurde in einer Operation des Shin Bet und der israelischen Armee aus den Händen der Terroristen befreit. Wir waren außer uns vor Freude. Ich konnte meine Tränen nicht unterdrücken. Als Vater von drei Kindern ist man da sehr sensibel. Ich fühlte mit der Familie.

Die Bilder aus dem Haus der Familie, die Großmutter, die ihre Enkelin umarmt, ließen kein Auge trocken. Und dann musste ich an die Familien derer denken, die sich weiterhin in der Gewalt der Terroristen befinden. Eine Achterbahn der Gefühle.
Zurück zu unserem neuen Alltag. Unsere beiden Kinder warten weiter auf den Beginn des Studienjahres. Es wurde jetzt auf Anfang Dezember verschoben, doch keiner weiß, in was für einer Welt wir uns in einem Monat befinden werden. Um die Wartezeit zu verkürzen und den Studenten etwas von der Studienatmosphäre zu vermitteln, veranstaltet die Rimon Musikschule per Zoom Vorträge und Unterrichtsstunden mit bekannten israelischen Künstlern. Unser Sohn und wir hatten uns sehr auf den Beginn des Studienjahres gefreut und dann waren wir plötzlich im Krieg. Doch diese Zoom-Veranstaltung haben unseren Sohn wieder optimistischer gestimmt. Er wird in diesem Jahr nicht auf das Studium verzichten. Punkt.
Auch unsere Tochter muss auf den Start ihres letzten Studienjahres warten. Eine geplante Studienfahrt nach Holland wurde natürlich abgesagt. Die Enttäuschung war groß. Für unsere Tochter waren besonders die ersten zwei Wochen nach der Katastrophe eine schwere Zeit. Ofek Arbib, der kleine Bruder einer Kindheitsfreundin von ihr, wurde bei der berühmten Nova-Musikparty von den Terroristen ermordet. Das hatte ihr schwer zu schaffen gemacht. Dazu wurde ihr später bekannt, dass eine Mitarbeiterin der Firma, in der sie im vergangenen Jahr ein Praktikum gemacht hatte, ebenfalls bei der Musikparty ermordet worden war. So war es gut, dass die Designschule, wo sie studiert, ein Projekt begann, bei dem wichtige Teile der Ausrüstung der israelischen Armee genäht wurden. Armee-Einheiten schickten kistenweise die Materialien, aus denen dann wichtige Ausrüstungsteile hergestellt wurden.

Für unsere Tochter war das eine willkommene Ablenkung. Das Gefühl, etwas Wichtiges zu tun, gebraucht zu werden, hat ihr gutgetan. Wir Eltern machten uns natürlich wie immer Sorgen, denn ihre Hochschule befindet sich in einer Gegend, in der fast täglich die Sirenen ertönen. So wurde sie einmal vom Raketenalarm überrascht, als sie gerade in den Zug nach Modiin gestiegen war. Sie musste sich dann auf den Boden legen und dort fünf Minuten ausharren. Nach dem Bumm der Raketenabwehr konnte sie dann ihre Fahrt fortsetzen. Das ist unser neuer Alltag.
Und unser ältester Sohn, die mit seiner Frau in Tel Aviv wohnt, ist jetzt fast jeden Tag bei der Armee bei seiner alten Nachrichten-Einheit, nur ein oder zweimal in der Woche geht er zu seiner Arbeit. So hat sich unser ganzes Alltagsleben verändert.

Den größten Teil des Tages verbringen wir vor dem Fernseher. Er ist immer angeschaltet, damit wir immer sehen, in welche Richtung wieder Raketen abgeschossen werden. Wir haben uns an diese orangefarbenen Anzeigen an der rechten Seite des Bildschirms gewöhnt. Wo in anderen Ländern vielleicht die aktuellen Wetter- oder Börsendaten angezeigt werden, zeigt man bei uns die Orte, die gerade von Raketen beschossen werden. Was für eine verrückte Welt. Das Schlimmste ist, dass wir uns auch daran gewöhnt haben.
Am Samstagabend haben meine Tochter und ich diesen Alltagstrott unterbrochen und etwas zusammen musiziert. Wir hatten schon lange geplant, uns einmal dabei aufzunehmen. Es war eine willkommene Abwechslung in diesen traurigen Zeiten.
Etwas Abwechslung in diesem neuen Alltag, meine Tochter und ich beim musizieren.
Unsere Einkaufszentren sind seit dem 7. Oktober ziemlich leer. Keiner denkt jetzt an Shopping. Daher machen die Geschäfte, die noch geöffnet haben, jetzt schon gegen 18 Uhr zu. Manchmal erlauben wir es uns, am Abend einen kurzen Spaziergang zu machen. Die Straßen sind deutlich leerer als sonst, auch in unserer eh schon als “Schlafstadt” bezeichneten Stadt Modiin.
Die Erinnerungen an die Rufe nach “Demokratie“, die sich wegen der ständigen Demonstrationen in unserer Straße gegen den Justizminister in mein Gehirn gebrannt haben, verschwinden langsam. Erinnert Ihr Euch noch daran? Das war in einer anderen Zeit. Jetzt müssen wir uns mit den wirklichen Problemen befassen. Unglaublich, mit was für Dingen wir uns bis vor einem Monat noch beschäftigt hatten. Ich hoffe sehr, dass wir nach diesem Krieg wieder in unseren normalen Alltag zurückkehren können, aber dann ohne Streit unter uns. Vielleicht werden wir von diesem Krieg lernen, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten.
Noch ein Wort zum Titelbild dieses Artikels. Während der ersten Tage des Krieges war die junge Soldatin Eden Nimri gefallen. Sie war im Abschlussjahrgang unseres jüngsten Sohnes. Er kannte sie nicht persönlich, zeigte uns jedoch ein Jahrgangsfoto seiner Schule, auf dem er zusammen mit ihr zu sehen war. Man konnte sehen, dass ihr Tod ihm zu schaffen machte. Fast jeder von uns ist von diesem Krieg betroffen. Fast jeder kennt jemanden, der einen Verwandten oder Freund verloren hat. Auch der Nachbar unseres ältesten Sohnes wurde von den Terroristen auf der Musikparty ermordet.
Ich hoffe, ich habe es geschafft, etwas von der Stimmung bei uns und unseren Empfindungen zu vermitteln. In Hoffnung auf bessere Zeiten wünsche ich Euch einen guten Dienstag. Macht es gut!
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4 Antworten zu “Der neue Alltag”
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Danke für diese persönlichen Worte – und das Konzert mit deiner Tochter.
Übrigens: Auf dem Oldenburgischen Staatstheater weht die ISRAEL Fahne – siehe auch im Internet: (staatstheater.de/startseite).
Ganz herzlichen Dank für diesen musikalischen Lichtblick in eurem traurigen und trüben Alltag! Man darf sie nicht vergessen, die Suche nach Augenblicken der Freude, die unsere Seele braucht, besonders auch in schweren und niederdrückenden Zeiten, so wie es auch Anat ausdrückte über die Freude an der Hochzeit ihres Sohnes.
wunderschönes Duett von Tochter mit Vater….
Wie anrührend, der berühmte “Schwan” aus dem Karneval der Tiere. Musik machen ist was besonderes, auch wenn die Zeiten so krass sind.
Wir beten für Euch und Euer Land.